Setz, Clemens J.: Indigo.
Buchtipps | Literatur
Clemens J. Setz schaffte es mit seinem Roman „Indigo“ 2012 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, der für den besten deutschen Roman des Jahres vergeben wird. Den Preis bekam er zwar nicht, aber auch die Shortlist mit nur sechs Nominierungen ist dennoch ein schöner Erfolg.
Indigo ist eigentlich eine Farbe, ein tief dunkles Blau. In diesem Roman ist es allerdings der Name einer seltsamen Kinderkrankheit: Ein Indigo-Kind fühlt zwar selbst keine Symptome, bewirkt aber bei allen Menschen, die sich ihm auf weniger als zehn Meter nähern, Übelkeit, Schwindelgefühle und Kopfschmerzen der ärgsten Form. Den Namen bekam die Krankheit, weil ein „Medium“ in einer Fernsehshow bei einem Indigo-Kind eine dunkelblaue „Aura“ wahrgenommen hat.
Kollegin Mag. Edith Fragner machte mich darauf aufmerksam, dass in esoterischen Kreisen neuerdings das Auftreten von Indigo-Kindern behauptet wird. Clemens Setz muss diese Behauptungen kennen, denn seine fiktive Indigo-Krankheit hat viel Ähnlichkeit mit den von den Esoterikern postulierten Symptomen – allerdings nicht auf Seiten der Kinder selbst, sondern auf Seiten der Erwachsenen.
Denn: Wer Kinder hat oder näher Kinder kennt, weiß, wie sehr sie das Leben der sie umgebenden Erwachsenen auf den Kopf stellen. Da gibt es Schwangere, die monatelang flach liegen müssen; da gibt es junge Eltern, die jahrelang am Zahnfleisch gehen, weil ihre Kinder sie nachts nicht durchschlafen lassen; verzweifelte Mütter, die von den Kapriolen ihrer Sprösslingen zum Wahnsinn getrieben werden; Kindergartengruppen und Schulklassen, die von Gruppenmitgliedern ganz gegen ihren Willen tagtäglich dominiert und auf Trab gehalten werden; LehrerInnen, die ihre ganze Energie einsetzen müssen, um „verhaltenskreative“ SchülerInnen unter Kontrolle zu halten, usw. Und genau solche Kinder werden von esoterischen „Therapeuten“ als Indigo-Kinder diagnostiziert, während wissenschaftlich fundierte Medizin häufig ein handfestes ADHS feststellt. Es ist eben alles eine Frage der Sichtweise.
Während aber esoterische Indigo-Fans diese anstrengenden Kerle vergöttern („Lichtbringer einer neuen Zeit“!), haben die Indigo-Kinder bei Setz keinen solchen Nimbus, sondern sie sind im Grunde „ganz normal“, haben nur katastrophale Auswirkungen auf die Mitmenschen. Damit überspitzt Setz die jedem bekannten alltäglichen Wirkungen von Kindern auf Erwachsene, sodass der Roman zur Parabel über das Verhältnis Kind – Erwachsene wird.
Der Roman ist natürlich keine gemütliche Nachtkästchenlektüre, sondern er stellt allein von seiner Bauform her gewisse Anforderungen an den Leser. Es gibt nämlich zwei einander stellenweise berührende Haupt-Handlungsstränge, daneben noch einige Seiten – fiktives – dokumentarisches Material, das die Hauptperson gesammelt hat, und all das wird bunt gemischt, sodass die Handlung nicht von einem Strang zum andern, sondern auch von der jüngsten Vergangenheit in die Zukunft und zurück springen kann.
Die Hauptfigur des einen Handlungsstrangs ist der Mathematiklehrer Clemens J. Setz (seltsames Detail, diese Namensgleichheit der Hauptfigur mit dem Autor), der sein erstes Unterrichtsjahr an einem Internat für Indigo-Kinder, der „Helianau“ am Semmering, verbringt, dort zwar halbwegs passablen Unterricht zustande bringt, sich aber nicht wohlfühlt. Schließlich gerät er mit dem Direktor, einem gewissen Hofrat Dr. Rudolph, in einen Konflikt, der zu Handgreiflichkeiten und dem Hinauswurf des Junglehrers führt. Der junge Lehrer wollte genau wissen, was mit jenen Kindern geschieht, die von der Schule entfernt wurden. Das gibt es nämlich, und der Vorgang wird „Relokation“ genannt.
Jahre später – das könnte man als einen dritten Handlungsstrang bezeichnen – erlebt man Setz in psychisch zerrüttetem Zustand, wie er als Buchautor über Indigo-Kinder Recherchen anstellt, weil er einige Artikel darüber im „National Geographic Magazine“ veröffentlichen will. Eines der Kinder besucht er in der Steiermark in dem Dorf Gillingen, und einige Jahre später bringt es sich um. Hat Setz zu diesem Schritt beigetragen?
Der zweite Handlungsstrang rankt sich um Robert Tätzel, ein ehemaliges Indigo-Kind, das nun – als Erwachsener – „ausgebrannt“ ist, also keine Wirkungen mehr auf die Umgebung hat. Er selbst ist aber reichlich seltsam, malt schockierende Bilder von Versuchstieren und forscht nach seinem ehemaligen Mathelehrer Setz, von dem er in den Medien gelesen hat, er sei vom Verdacht, jemandem die Haupt bei lebendigem Leib abgezogen zu haben, freigesprochen worden.
Durch die komplizierte Struktur des Romans ist es schwierig, alle geschilderten Vorgänge im Gedächtnis zu behalten und in der richtigen Weise zusammenzupuzzeln. Man müsste den Roman gleich ein zweites Mal lesen, dann würde einem wohl noch einiges „aufgehen“. Aber wer hat dazu Zeit? Ich jedenfalls nicht…
Setz, Clemens J.: Indigo.
Roman, Frankfurt, Suhrkamp 2012, 475 Seiten, einige Illustrationen.
Signatur: D / SET
Zum Indigo-Syndrom: Indigokinder
© Wolfgang Krisai, 2012
Bild © Mona Wilimek, 4B, 2017/18
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