Zeh, Juli: Adler und Engel. Roman

Kurios: Die Deutschen leben zu 99% alle ein äußerst biederes, korrektes Leben – aber in der Literatur geht es zu wie im Irrenhaus. Da sind die schrägsten Typen angesagt, es wird gekokst auf Teufel kommt raus, jeder Zweite ist in mafiöse Verbrechen verwickelt, und regulär arbeiten, essen, schlafen, sich entspannen tut niemand.

Mäx will sterben

Das gilt auch für diesen Roman. Die Hauptperson, Max oder „Mäx“, ein ca. 35jähriger deutscher Jurist, konsumiert Unmengen von Kokain (ohne das funktioniert er überhaupt nicht mehr) und will nur noch sterben, was ihm allerdings die ganzen 444 Seiten lang nicht gelingt.
Gelungen ist es seiner „Freundin“ Jessie, die sich während eines Telefongesprächs mit ihm ins andere Ohr geschossen hat. Davon ist Mäx auf seinem Telefonohr taub geworden (na ja, auch so eine literarische Fiktion). Das hat er einer Quasseltante in ihrer Nachtsendung live im Radio erzählt. Diese, Clara mit Namen, findet das so interessant, dass sie bei ihm auftaucht und die ganze Vorgeschichte wissen will, angeblich für eine Diplomarbeit in Psychologie. In Wirklichkeit, kriegt man gegen Ende des Romans mit, ist sie nur die Helfershelferin der Hintermänner von Jessies dunklen Geschäften, die nach ganz etwas anderem suchen als nach ihrer Krankengeschichte…

Wilde Geschichte in Wien

Max beginnt nach einigem Widerstand die Geschichte tatsächlich auf Band zu sprechen, das Clara beschafft hat. Damit das alles besser läuft, reisen die beiden nach Wien, wo Max längere Zeit in einem Anwaltsbüro gearbeitet hat.
Ich fasse schnell zusammen:
Jessie ist die Tochter eines Drogenbarons namens Ross und Schwester von Herbert sowie Freundin von Shersah, einem Halbägypter. Max kennt sie aus dem Internat, wo sie ihm schon immer Drogen verschafft hat. Irgendwann sind sie zusammengezogen, zuerst in Wien und dann in Leipzig, wo Max eine Dependence des Wiener Anwaltsbüros aufgemacht hat. Der Anwalt, Rufus, ist ebenfalls ins Ross‘ Drogengeschichten verwickelt, ebnet sozusagen die Wege, zuerst in den Balkan (aha: Juli Zeh, selbst übrigens auch Juristin, hat es ja irgendwie mit dem Balkan, siehe das Reisebuch aus dem Balkan) und später über Polen in den Osten (Polen hat eben bei den Deutschen den notorischen Ruf, ein Gaunerparadies zu sein, da macht Juli Zeh auch keine Ausnahme). Jessie hatte Zugang zu dem Computer, auf dem alle Projektdaten für die Polen-Connetion gespeichert waren. Und sie hat dort (mit Hilfe eines jungen Computerspezialisten namens Tom) alles so verschlüsselt, dass nur noch sie Zugang hatte.
Außerdem ist sie mit Shersah und einer Riesenmenge Drogengeld durchgegangen. Das Geld haben Ross und co. gleich wieder gefunden, zum Großteil zumindest. Den anderen Teil findet Clara in Max‘ und Jessies Wohnung unter den Dielen; es dient zur Finanzierung ihres Lebensbedarfs für die nächsten Wochen, in denen Max seine Geschichte „aufarbeitet“. (Das ist auch wieder so ein Versatzstück aus dem Trivialroman: Die Helden brauchen nicht zu arbeiten, weil sie durch ein Wunder unbegrenzt viel Geld haben…)
Max musste Shersah im Auftrag Jessies erschießen. Die Leiche bekommt ein perverser Wiener Künstler (auch die Österreicher sind nicht besser als die Deutschen, wohlgemerkt, zudem sprechen sie noch im Dialekt), der Leichen als Gussformen für fotorealistische Skulpturen verwendet und seine übergroße Kühltruhe im Weinviertler Erdkeller nebenbei als Drogenlager zu Verfügung stellt. Man könnte Shersah also in einer Kunstgalerie besichtigen.
Clara, inzwischen selbst schon zum Drogenwrack heruntergekommen, besucht mit Max diesen Künstler namens Erwin.
Sie haust mit Max in einem Wiener Vorstadt-Schuppen ohne Klo (pinkelt hinters gestohlene Auto von Tom, usw.), gemeinsam mit Jessies Hund Jacques Chirac, den sie immer mitschleifen, bis Max ihn gegen Ende des Romans ersticht. Eines Tages ist plötzlich Tom vor der Tür, der seltsamer Weise nicht sein Auto haben will, sondern nur seine Ruhe und Max dafür eine Codenummer auf einen Zettel schreibt. Zum Schluss des Romans sitzen Max und Ross einander in einem Wiener Café gegenüber, und Ross will den Zugangscode Jessies von Max. Der vorgibt, ihn nicht zu kennen.
Als dann Clara nicht mehr im Schuppen zu finden ist, entwickelt Max plötzlich einen edlen Zug: Er ruft Ross an und kauft ihm Clara gegen den Code ab. Ross sagt ok – und damit endet der Roman.

Kritik

Stilistisch ist der Roman keine Offenbarung, eigentlich ist er schlicht erzählt, ohne experimentelle Kapriolen. So kommt man wenigstens flott voran. Die Hauptperson ist zwar männlich, führt sich aber irgendwie weiblich auf, immer wieder gibt es Reaktionen, die man von einem Mann, zumal einem dermaßen hartgesottenen Kokser, nicht erwarten würde, wohl aber von Frauen.
 
Seltsam, wie eine in ihren Interviews so patent wirkende Frau wie Juli Zeh solch eine verko(r)kste Welt aufbauen muss. Ihr zweiter Roman „Spieltrieb“ soll ja ähnlich sein. Das ist eben die trivialliterarische Masche, ins schwarze Gegenteil umgedreht: Alles spielt sich in einer dem Leser völlig fremden Welt ab, die es wahrscheinlich nur in Romanen gibt.
Wenn man allerdings erfährt, wie dieser Roman entstanden ist (nachzulesen in Juli Zehs neuestem Essayband „Alles auf dem Rasen“ – den es in der Schulbibliothek jedoch nicht gibt), dann  wundert man sich weniger: Juli Zeh musste intensivst für ihr juristisches Examen lernen (wochenlang) und hat, damit sie nicht überschnappt, nebenbei (also tief in der Nacht) wie besessen einfach drauflosgeschrieben. Später bastelte sie aus diesem Material ihren ersten Roman.

 

Zeh, Juli: Adler und Engel. Roman. btb-Taschenbuch, 3. Aufl. 2003 (Erste Auflage: 2001), 444 Seiten.

Signatur: D / ZEH

©  W. Krisai