Schätzing, Frank: Der Schwarm. Roman.

Frank Schätzing habe ich im Fernsehen gesehen und per Podcast im Interview gehört, und er hat einen sehr guten Eindruck gemacht. Er bezeichnet sich selbst als „Unterhaltungsschriftsteller“, und beste, spannendste Unterhaltung ist auch dieser Roman, und ganz nebenbei erfährt man sehr viel über das Meer, das „unbekannte Universum“.

Gefahr der Auslöschung der Menschheit

Auf und im Meer spielt der Roman, und es geht um nichts Geringeres als um die Gefahr der Auslöschung der Menschheit, weil das Meer sich gegen die Menschen zur Wehr setzt. Nun, es ist genaugenommen nicht das Meer, sondern ein bislang dem Menschen völlig entgangener, seit Abermillionen Jahren existierender Organismus, der plötzlich die Geduld verliert und die Menschen ausrotten will. Dabei geht dieser Organismus höchst intelligent vor, sodass die Menschen durchaus den Eindruck bekommen, sie hätten es mit „Außerirdischen“ zu tun.
Dabei fängt alles – geschickte Dramaturgie des Autors! – ganz harmlos an. In Trondheim werden einem Universitätsprofessor, Sigur Johansen, seltsame Würmer aus der Tiefsee zur Bestimmung vorgelegt, die bei der Sondierung nach einer günstigen Position für eine unterseeische Ölbohr-Fabrik gefunden wurden. Johansen muss feststellen, dass die Würmer noch nicht bestimmt wurden. Doch da unten treten sie in ungeheuren Massen auf und bohren sich in das am Norwegischen Kontineltalabhang in gewaltigen Mengen auftretende Methan-Eis.

Großangriff der Wale

Gleichzeitig fährt auf der anderen Seite des Globus, nämlich vor Vancouver und Victoria-Island Anawak, ein Biologiestudent und nebenberuflicher Walewatcher-Führer, mit dem Boot aufs Meer hinaus und entdeckt endlich die in diesem Jahr – 2005 oder so – lange vermissten Wale, muss aber feststellen, dass sie sich im Verhalten verändert haben. Zwei tauchen auf und beobachten Anawak durchdringend, bis dem langsam mulmig wird. Kurze Zeit später beginnt ein Großangriff der Wale: Sie bringen praktisch alle kleineren Boote zum Kentern, die sich aufs Meer hinauswagen. Fast wäre Anawak mit seiner ersten Touristenfuhre ertrunken, hätte ihn nicht Greywolf, ein hühnenhafter Möchtegern-Indianer, gerettet. Und gleich einige andere auch.

 

Natürlich kann ich jetzt nicht die 980 Seiten Handlung in dieser Genauigkeit nacherzählen. Daher kurz zusammengefasst, was der Leser erst langsam, sozusagen Puzzlesteinchen für Puzzlesteinchen, erfasst und eigentlich erst auf dem letzten 100 Seiten wirklich durchschaut.
Der seltsame Meeresorganismus, der hinter den Attacken auf die Menschen steht, ist ein „Schwarm“ von Milliarden Einzellern, die sich auf die unterschiedlichste Weise formieren und zu gefährlichen Angreifern ausbilden können. Johansen steuert eher zufällig einen Namen dafür bei: Yrr. Die Yrr bilden Fangarme, fressen sich in die Gehirne der Wale hinein, um diese ihren Absichten dienstbar zu machen. Sie füllen und steuern diese dubiosen Tiefseewürmer, die den Kontineltalschelf so sehr lockern, dass das Methan sich freisetzt und eine gewaltige Rutschung einen Tsunami in Bewegung setzt, der ganz Nordeuropa ins Chaos stürzt.
Nebenbei sei hier erwähnt, dass Schätzing den Tsunami so realistisch und treffend schildert, dass er damit einzelnen Lesern, die das Buch Neujahr 2005 in den Tsunami-Gebieten lasen, das Leben gerettet hat. Briefe diesen Inhalts hat er bekommen, und als er sie las, lief ihm die Gänsehaut über den Rücken.
Zurück zu den Yrr: Sie füllen Krebse und Hummer mit hochgiftigen Bakterien und steuern sie als millionenfaches Selbstmordkommando an Land, wo die Bakterien dann in die Bewässerungssysteme gelangen und New York, Washington, Boston und zahllose andere Küstenstädte lahmlegen. Und es steht zu befrürchten, dass all das nur ein schwacher Anfang war, da die Würmer die Karibischen Inseln unterminieren und damit einen noch viel gewaltigeren Tsunami hervorrufen könnten, und da die Yrr den Golfstrom zum erliegen gebracht haben – was innerhalb weniger Jahre krasse Klimaveränderungen hervorrufen muss.

Showdown auf den letzten 200 Seiten

Kein Wunder, dass sich der charismatische Präsident der USA (es ist Goerge W. Bush, auch wenn er nie namentlich genannt wird) herausgefordert sieht, die Welt zu retten. Er setzt dabei auf eine chinesisch-stämmige Generalin namens Li, die – top secret – eine Truppe von Militärs und Wissenschaftlern zusammenstellt, die die Bedrohung stoppen sollen. Unter ihren Leuten findet der Leser Anawak genauso wieder wie Johansen und ein Dutzend andere Leute, die er im Lauf des Romans recht gut kennen gelernt hat. Während also im ersten Teil (knapp die Hälfte des Buches umfassend) die Handlungsfäden an verschiedenen Orten der Welt spielen und noch nicht viel Zusammenhang haben, spielt der zweite Teil an Bord eines gigantischen Hubschrauber-Trägers vor Grönland, der in aller Eile als Hauptquartier der Truppe hergerichtet wurde. Man will mit den Yrr in Kontakt treten, um sie zum Einlenken zu bewegen. Der Kontakt gelingt, allerdings erweisen sich die Yrr als nicht gerade friedlich. Sie zerstören das als immun geltende Schiff, sodass es auf den letzten 200 Seiten des Buches zum Showdown kommt. General Li gerät außer Kontrolle, da sie ganz geheim ein Gift gegen die Yrr entwickelt hat, das sie auf eigene Faust per U-Boot in den Organismus injizieren will, damit dieser sich selbst zerstört. Da inzwischen aber klar ist, dass die Yrr ein für das Leben im Ozean unverzichtbarer Bestandteil sind, wäre ihre Ausrottung auch das Ende der Menschheit, die ja vom Funktionieren der Meere abhängt. Johansen kommt hinter Lis Vorhaben und will es vereiteln. Es gelingt ihm nicht, sie erschießt ihn. Er fällt fast tot in die Kabine des U-Boots, mit dem Li das Gift zu Wasser bringen will, und als Li in der zweiten Kabine sitzt, gelingt es Johansen mit letzter Kraft, das Boot zu sprengen.
Währenddessen herrscht auf dem Schiff das Inferno, es sinkt, brennt, überall explodieren Tanks, die Rettungshubschrauber versagen, es wird herumgeschossen, usw. Richtige Action eben. Doch die junge Wissenschaftlerin Weaver kann eine rettende Idee in die Tat umsetzen: Im Labor haben die Wissenschaftler eine Substanz entwickelt, durch deren Geruch die Yrr einander erkennen. Diese injizieren sie nun einem toten Wissenschaftler (natürlich dem Ober-Verräter), Weaver fährt mit dem Leichnam per U-Boot in die Tiefe, trifft dort auf das Zentrum der Yrr, die „Königin“, wirft den Leichnam mit dem Duftstoff hinaus – und keine Stunde später ist die Welt gerettet. Da die Yrr yrrtümlich meinen, die Menschen, die sie so bekämpft haben, seien ja ihresgleichen, weil das vorliegende Exemplar so riecht, blasen sie den Kampf ab. Sie durchbrüllen auf speziellen Frequenzen die Weltmeere, sodass überall die Kampfhandlungen aufhören: angreifende Haie schwimmen friedlich davon, die Würmer bohren nicht mehr, die Krebse krabbeln nicht mehr an Land, die Wale sind wieder kuschelig…
Anawak und Weaver, die ohnehin etwas füreinander übrig haben, überleben fast als einzige aus dem Wissenschaftlerteam, alle anderen mussten dran glauben. Ende.

Psychologisch eher schwachbrüstig

Schätzing konzentriert sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Abwehrarbeit, daneben wird auch ein wenig über die psychische Situation der Leute berichtet, diese Seite des Buches bleibt aber etwas lahm, die Figuren sind da doch sehr schwachbrüstig. Interessanter Weise kommt es im ganzen Roman zu keiner einzigen schlüpfrigen Szene, was Schätzing durchaus positiv anzurechnen ist. Am ehesten sind noch Anawak und Johansen als vollwertige Menschen ausgebildet, mit einem interessanten Gefühlsleben, Interessen, auch einem biographischen Hintergrund (Anawak ist Inuit, will das aber nicht eingestehen – bis sein alkoholabhängiger Vater stirbt und er beim Begräbnis seinen Onkel als einen sehr tiefen Menschen erlebt), während so wichtige Figuren wie Li oder der CIA-Boss Vanderbuilt recht klischeehafte, zum Teil grotesk überzogene Gestalten sind.

Der Roman liest sich, wie gesagt, spannend, aber das letzte Drittel ist doch mit unglaubwürdigen Dingen und Vorgängen gespickt, dass es gegen den Anfang merklich abfällt. Sei’s drum, die Lektüre ist interessant, und man sieht sich mehr oder weniger verpflichtet, nun den nächsten Ziegel aus Schätzings Feder nachzuschieben, nämlich sein umfangreiches Sachbuch über das Meer: „Nachrichten aus einem unbekannten Universum“, das wir ebenfalls in der Schulbibliothek haben.

Schätzing, Frank: Der Schwarm. Roman. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 4. Aufl. 2005. Erstausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2004. 990 Seiten. Systematik D / SCHÄ

©  W. Krisai