Anna Siska, 4C, 2017: Fotoapparat.

Anna Siska, 4C, 2017: Fotoapparat.

Guibert / Lefèvre / Lemercier: Der Fotograf. Graphic Novel.

Buchtipps | Comics und Graphic Novels

Interessante und lehrreiche Graphic Novel über einen französischen Fotografen, der im Jahr 1986 mit einer Gruppe von “Ärzten ohne Grenzen” von Pakistan tief ins kriegsgebeutelte Afghanistan marschiert. Interessant auf zwei Ebenen: Einerseits erfährt man sehr viel über die Afghanen und deren Umgang mit dem Krieg, das sicher auch heute noch für die gegenwärtige unsichere Situation in diesem Land gelten wird. Andererseits ist dies eine ungewöhnlich gestaltete Graphic Novel: Schwarzweiß-Fotografien des Fotografen Didier Lefèvre, des Helden der Novel, wechseln mit Zeichnungen des Comic-Künstlers Guibert, die erzählerische Ausgestaltung stammt von Lemercier.

Weiterführende Informationen zu dieser Graphic Novel: lephotographe.dupuis.com (auf Französisch).

Die Situation in Afghanistan 1986:

Seit 1979 führt dort die Sowjetunion Krieg gegen die Mujaheddin. Diese islamischen Fundamentalisten werden im Gegenzug eifrig von den USA und dem Westen unterstützt und mit Waffen versorgt. (Mit der Folge, dass sie – nämlich die Taliban – dann das Land erobern, ein Schreckenregime errichten und nun ihrerseits zum Feind der USA werden, was zum Afghanistan-Krieg ab 2001 führt, doch davon ist in der Novel nicht die Rede.) Ärzte ohne Grenzen betreut einige abgelegene Landstriche im Norden Afghanistans, die noch in der Hand der Mujaheddin sind. Daher müssen sie sich mit diesen lokalen Machthabern arrangieren, bekommen von ihnen eine Eskorte und dürfen mit einer Waffenschmuggel-Karawane mitziehen. Eine allein ziehende Ärzte-Karawane wäre zu gefährdet. Wenn sie durch von den Sowjets unmittelbar bedrohtes Gebiet ziehen, gehen sie nur in der Naht weiter und verstecken sich am Tag, da es leicht passieren könnte, von einem sowjetischen Hubschrauber beschossen zu werden.
Die Ärztegruppe besteht aus der Anführerin Juliette, die sehr gute Beziehungen nach Afghanistan hat und sich in dieser Männerwelt behaupten kann, und den Ärzten John (aus den USA), Régis, Robert und aus einer Reihe weiterer, in der Novel eine untergeordnete Rolle spielender Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen.

Eine abenteuerliche und gefährliche Reise:

Schlicht chronologisch erzählt diese Novel den Weg des Fotografen Didier nach: Zunächst befindet er sich in Peshawar in Pakistan, wo er mit den Kollegen von Ärzte ohne Grenzen und deren Gehilfen die Expedition vorbereitet. Sie verpacken alles wasserdicht und karawanentauglich, kaufen hundert Esel und eine größere Zahl Pferde, heuern Führer an und dringen dann abseits der Hauptverkehrsrouten nach Afghanistan ein.
Dann geht die Route gemeinsam mit einer Waffenkarawane unter dem Schutz der Mujaheddin in einer großen S-Kurve über viele Pässe von bis zu 5000 Meter Seehöhe bis in den Nordosten Afghanistans.

Der erste Band schildert den Hinweg: wie man die gewaltigen Strapazen bewältigt, mit den Einheimischen geschickt umgeht, welche landes- und kriegstypischen Eigenheiten man zu beachten hat, wie man mit den lokalen Kommandanten gerissen umgehen muss, usw.

Der zweite Band erzählt vom Einsatz der Ärzte vor Ort: Untersuchungen, Operationen nach sowjetischen Angriffen, sterbenden Kindern, zerschossenen Gesichtern und auch lustigen Erlebnissen.
Wie beim Herweg ist Didier auch hier eine Nebenperson, er hat den Auftrag, eine Fotoreportage zu machen und fotografiert eifrig (nur fünf der 4000 Fotos werden im Endeffekt je veröffentlicht!) und gewöhnt sich langsam an seine neue Umgebung. Schließlich wird er aber wagemutig und will den Rückweg ohne die Ärzte-Gruppe machen. Davon handelt Band 3.

Didier erlebt nun plötzlich ganz andere Afghanen, weil er für diese Leute kein ernst zu nehmender Partner ist: Faulpelze, die ihn in schwierigen Situationen mitten im Gelände im Stich lassen und verschwinden; Erpresser, die jeden Tag mehr Geld von ihm fordern, wenn sie ihn noch weiter bringen sollen; nur noch ganz selten gastfreundliche und hilfsbereite Menschen. Die meisten Afghanen fragen den kaum Antworten zustande bringenden Reisenden nur neugierig aus, und er hat bald heraußen, dass er sagen muss, er sei Christ (und nicht Atheist, da hätten sie ihn gleich umgelegt), habe eine Frau (und sei nicht unverheiratet) und habe Kinder (was auch nicht stimmte). Das passt ins engstirnige Weltbild der Afghanen. Wer nicht ins Schema passt, ist ein toter Mann.
Didier kommt auf dem Weg fast um, da er – von seinen “Führern” verlassen – allein einen verschneiten Pass überschreitet und dabei fast erfriert und verrückt wird. Dann nimmt ihn eine Karawane mit, deren Schutz er aber teuer bezahlen muss. Erst im Grenzland, wo ein von den Afghanen als Gauner verschriener Stamm wohnt, wird er endlich wieder freundlicher behandelt. Kaum erreicht er den ersten pakistanischen Ort, will ihn ein korrupter Polizist ausnehmen. Bevor er eingesperrt wird, kann er allerdings flüchten und sich zum nächsten Stützpunkt der Ärzte ohne Grenzen durchschlagen. Dort treffen einen Tag später auch seine Freunde ein, die er um Wochen hinter sich hatte lassen wollen.
Die Novel endet mit der Rückkehr nach Frankreich.

Am Schluss des 3. Bandes werden die weiteren Lebenswege der handelnden Personen erzählt, nun nicht mehr als bande dessinée:
Didier reist noch mehrfach nach Afghanistan, stirb aber 2007 in Frankreich an Herzversagen. Für die Novel hat er seine alten Fotos wieder ausgegraben und zur Verfügung gestellt.
Die Ärzte arbeiten inzwischen wieder in ihren Heimatländern, Juliette und John haben geheiratet. Von den afghanischen Leuten weiß man zum Teil nichts mehr, sie sind in den Kriegswirren verschollen.

Großartige Graphic Novel, eine der besten, die ich kenne.

Guibert / Lefèvre / Lemercier: Der Fotograf.

Graphic Novel.

3 Bände. Edition Moderne, Zürich, 2008, 2008, 2009; 80, 80, 100 Seiten.

Signatur: MC / GUI

© W. Krisai

Bild © Anna Siska, 4C, 2017